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Allee

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Ein Buchpaket vor Weihnachten in der Post, privat…von einer guten Freundin, die meinen Geschmack kennt. Ob ich widerstehen kann, es zu öffnen? Nein, schon habe ich den grossen Umschlag aufgeschnitten, es war noch extra festes Klebeband um den Karton gewickelt. Drinnen: eindeutig Weihnachtspapier, rot mit goldenen Sternen. Ach, ich kann doch schon mal schauen, was es ist. Was es für einen Titel hat…Schnell ist das hübsche Papier entfernt, der beiliegende Kartengruss samt guten Festtagswünschen dankbar lächelnd beiseitegelegt und schon bin ich mittendrin. Samstagvormittag ein bisschen geschmökert, Samstagnachmittag auch wieder und am Abend spielt es eh keine Rolle mehr….ich lese und lese und längst ist Mitternacht vorbei, als ich «Die Allee» von Florentine Anders beiseitelege.

Ja, diese Geschichte der Architektenfamilie Henselmann zwischen 1931 und 1995 faszinierte. Die Enkelin Florentine Anders recherchierte, fuhr mit ihrer Mutter zu einzelnen Orten, trug zusammen, was auffindbar war, sprach mit nahen und entfernten Familienmitgliedern und verwob Nachforschungen und Erinnerungen mit Vorstellungsvermögen. So oder so könnte es doch gewesen sein, so haben die ProtagonistInnen eventuell gefühlt, gedacht. Als  Zeitgemälde des Bauens in Ost und West schildert Anders den Wettbewerb zwischen der alten BRD und der DDR.

Jeder Staat wollte seine Modernität zeigen. Der Architekt Hermann Henselmann neigt dem Bauhausstil zu, muss sich allerdings immer wieder DDR-Vorgaben oder gar solchen aus Moskau beugen. Sein Status als oberster Baumeister der DDR verschafft ihm Privilegien, gleichwohl muss er seinen Geschmack dem der Herrschenden unterordnen. Während er im Rampenlicht steht, suchen die Frauen der Familie sich zu verwirklichen, sie wollen mehr als Mutter, Frau, Tochter sein. Sie wollen frei entscheiden, ob sie auch auswärts arbeiten oder sich um den Haushalt, die zahlreichen Kinder kümmern.

Als in der alten Bundesrepublik Aufgewachsene lerne ich jetzt das Lebensgefühl der «anderen Seite» am Beispiel von Isi, der Grossmutter der Autorin und Isa, ihrer Mutter,  kennen. Und erfahre einiges über die Architektur von Berlin.

Es hat sich gelohnt, spät ins Bett zu kommen.

Florentine Anders: Die Allee, Roman, Galiani Berlin/Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2025, 352 Seiten