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Nachmittage

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Nachmittage verrinnen, dehnen sich aus, gehen in Abende über, landen in einem neuen Tag. Nachmittage werden verplaudert, verschlafen, verpixelt. Sie verschwimmen, verlaufen, vergehen. Nachmittage bergen Geheimnisse und Geschichten. Ferdinand von Schirach präsentiert einen Nachmittag in Taipeh, an dem er interviewt werden soll, doch stattdessen zu einem Tempel geführt wird, in dem Yue Lao, der Gott der Liebe wohnt. Über Umwege in Gedanken und Gefühlen erinnert sich Schirach an eine bezaubernde Begegnung in New York, an Goethes Wahlverwandtschaften, an Thomas Manns Zauberberg und ich versinke beim Lesen im Zug in eigenen Assoziationen und verträume beinah das Aussteigen an einem Sommersonntagnachmittag.

Schirach schildert Nachmittage in Tokio, im Süden Frankreichs, in Marrakesch, wo er einem Unternehmer aus Deutschland begegnet, den er vor Jahren verteidigt hatte…

Schirach beschreibt Zufallsbeobachtungen: ein Unfall vor einem Café in Berlin füllt die Gespräche der Kellner noch tagelang, ein Unfall in Indien mit 26 Toten steht als kleine Meldung auf der letzten Seite der Zeitung….

Nachmittage beim Schreiben in Italien, beim Gespräch mit einem Künstler, bei einer Beerdigung, im Museum…das leicht und gemächlich dahin fliessende, assoziative Schreiben des Autors ver/führt zu einem ebensolchen Lesen und lässt mich die dreistündige Zugfahrt von Passau nach München verträumen: gelesene Bilder verschmelzen mit der vor dem Zugfenster dahinsausenden Landschaft. Statt eilend schnellen Schritts heimwärts zu gehen laufe ich mit frisch guckenden Augen durch das ferienverlassene München und imaginiere eigene Geschichten….

Ferdinand von Schirach: Nachmittage, btb, Penguin Random House München 2023, 175 Seiten

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