Maman
Maman, so nannte ich meine Mutter, nachdem ich im Gymnasium erstmals diese französische Bezeichnung hörte. Im Dorf war Mamma geläufig, hessisch weich ausgesprochen.
Sylvie Schenk, in Deutschland lebende Französin, schreibt seit 1992 ihre Bücher auf Deutsch. „Schnell, dein Leben“, ihr 2016 erschienener Roman zog mich mit seinem Tempo in Bann. Tempo hat auch der Roman „Maman“. Sein eigenes Tempo, nicht im Sinne von Geschwindigkeit, sondern von Rhythmus, Melodie, Wortwahl, Satzbau. Denn eigentlich ist Tempo vom lateinischen her einfach die Zeit. Und wie sie gefüllt wird. Schenk packt in ihre knappen, kurzen, sehr konkreten Sätze vergangene Zeiten. Versucht hinter Mamans Sprachlosigkeit zu schauen, möchte über die Sprache ihrer verstorbenen Mutter nahe kommen. Deren Mutter war bei ihrer Geburt 1916 in Lyon gestorben. Sie habe in einer Seidenfabrik gearbeitet, wie schon ihre Mutter zuvor. Mit Sprachbildern lotet Schenk die Geschichte dieses Waisenkinds aus. „Vielleicht sitzt meine Mutter an der Quelle meiner von Neid und Faszination gemischten Furcht vor Intellektuellen, vor Menschen, die mit abstrakten Begriffen jonglieren, vor überheblichen Besserwissern aus gebildeten Familien…“ Sie findet sich zwischen den Seiten, hier die Gelehrten, dort die Ungebildeten: „Ich bin dazwischen als Künstlerin….Worte sind flüssiges Leben, sie sickern in die Spalten des Alltags.“
Warmherzige Worte, sanfte und zugleich starke Sätze nähern sich dem Leben von Maman bevor sie Maman wurde. Als Baby in der Kinderkrippe, als Kind bei armen Bauern arbeitend, nach dem Schuleintritt von einem bürgerlichen Paar adoptiert. Eine neue Welt für Renée, die Wiedergeborene, ein passender Name für Schenks Mutter. In ihren Erinnerungen und jenen ihrer Schwestern und ihres Bruders sucht Schenk weitere Annäherungen. Schwierig: „Unsere Mutter, die sprach nur mit der Wäsche und mit Babys“, so beginnt der Roman. Mit jeder neu auftauchenden Erinnerung entgleitet die Mutter immer mehr und genau in diesem Entgleiten wird sie fassbar: „Es gibt Leute wie Maman, die eine Art schwebendes, undefiniertes Wesen haben.“
Solche Menschen würden dann eher durch äussere Merkmale begriffen: Im Winter wärmte Maman sich oft am Gussheizköper des Wohnzimmers die Hände, tupfte sich die Nase mit einem Stofftaschentuch. „Manche Menschen kann man sich ohne die für sie typischen Kleidungsteile oder Accessoires nicht vorstellen. Der Turban gehört zu Simone de Beauvoir wie die Melone zu Chaplin oder der Blazer zu Angela Merkel. Meine Mutter war die Taschentuchfrau“.
Schenk erschreibt sich die Mutter dank ihrer Gespräche mit Verwandten, Bekannten. Die Schwestern konsultierten auch die Archive der Behörden.Einzelne Szenen ploppen auf und vergehen. „Ich schöpfe doch ständig aus dem Nichts,“ berichtet die Autorin, „ich mache ihr einen luftigen Sarg aus Worten.“ Alle Gesichter der Familie übereinander gelegt ergeben „das runde und schöne Gesicht des spontanen Lebens,“ schliesst das Buch.
Sylvie Schenk: Maman, Roman, Hanser Verlag München 2023, 174 Seiten