Sprache und Sein
Sprache bestimmt das Bewusstsein. Umgekehrt stimmt es auch: Bewusstsein bestimmt unsere Sprache. Kübra Gümuşay lockt uns mit diesem Buch auf die Fährten der Sprache/n, die uns zu neuem Bewusstsein führen kann/können. Eine gerechte Gesellschaft bereitet sich auch durch Wortwahl vor. Wenn ich nicht angesprochen werden als die, die ich bin, werde ich nicht gesehen. In unserer Sprache ist es wichtig zu differenzieren, die Möglichkeiten zu nutzen, die eine der, die, das Sprache bietet. Ob in Sprachen, welche die Unterscheidung nach Geschlecht nicht treffen, bei Prime Minister, doctor, teacher das Bild einer Frau vor dem inneren Auge aufscheint, wurde bislang nicht untersucht. Das wüsste ich gern.
Gümuşay führt von der Macht der Sprache zu den Lücken, die durch einen Absolutheitsglauben entstehen. In ihren klugen, klaren Ausführungen liegt Potential: werden wir uns unserer Sprache bewusst. Und sehen wir Vielsprachigkeit als Fähigkeit und nicht als Mangel, wie es kürzlich ein Bericht einer Kulturbehörde in Österreich suggerierte.
Zahlreiche Querverweise stützen die Darlegungen der Autorin, die von ihrer Sehnsucht nach einer menschlichen Sprache ausgehen. Sie sehnt sich nach einer einbeziehenden Sprache, einer Sprache, die Differenzierung und Gemeinschaft zulässt, einer Sprache, die unsere Welt nicht begrenzt, sondern unendlich weit öffnet und Freiheit schenkt: «Freies Sprechen setzt voraus, dass die eigene Menschlichkeit und Existenzberechtigung nicht zur Disposition steht.» Erleichternd ihr Hinweis, dass wir auf dem Weg sind und Fehler machen werden, kritisieren dürfen, ohne gleich Lösungen parat zu haben. Ohne Fehler hätten wir nie etwas gelernt. Auch dank unserer Fehler lernen wir die Welt und uns selbst besser kennen.
Mit «Sprache und Sein» gibt Gümuşay Anreize, zu hoffen: «Anreize sich der eigenen Perspektive und Begrenztheit bewusst zu werden. Und damit der Potenziale dieser Welt. Anreize, an der Gesellschaft mitzubauen, in der wir wirklich leben wollen.»
Büchern dieser Art wünsche ich grosse Verbreitung, um ein gerechtes, gütiges, wertschätzendes Miteinander entstehen zu lassen.
Kübra Gümuşay: Sprache und Sein, Hanser Berlin 2020, 189 Seiten