Im Grunde gut
Welche Gesellschaft hätten wir, gingen wir davon aus, dass der Mensch im Grunde ist? Das Gute anstrebt. Schliesslich gibt es genügend Untersuchungen, die zeigen, dass selbst Kleinkinder Ungerechtigkeiten spüren. Einige unserer nächsten Verwandten im Tierreich, die Bonobo-Affen, beenden Streitereien mit Kuscheln und Zärtlichkeiten. Aus dem ersten Weltkrieg bezeugen zahlreiche Berichte, dass viele Soldaten absichtlich daneben schossen, konnten die Kämpfenden doch auf beiden Seiten sehen, dass die Gegenüberstehenden ebenso junge Burschen waren wie sie selbst. So erzählte es auch mein Vater (Jahrgang 1897).
Rutger Bregman, niederländischer Historiker, 1988 geboren, sammelt in seinem Buch „Im Grunde gut“ Beispiele aus Geschichte und Gesellschaft, Psychologie und Politik, die bekunden, dass Menschen einander wohlgesonnen sind, sich gegenseitig gern unterstützen. Aus der Menschheitsgeschichte vermutet er – wie etliche andere Forschende – dass die Völker und Stämme, die noch als Nomaden lebten, sich immer wieder untereinander halfen. Erst mit der Sesshaftigkeit und dem Besitz kamen Neid, Missgunst, Egoismus.
Bregman recherchierte mit genauen Quellenangaben was eigentlich hinter dem weithin bekannten Milgram Experiment steckt, wonach die meisten Menschen anderen Leid zufügen, wenn es gefordert wird. Er fand heraus, dass die Probanden mehrmals den Untersuchungsraum verlassen wollten, doch von den Versuchsleitern gehindert wurden. Die Versuchsleiter zwangen in einigen Fällen die Probanden oder bedrohten sie gar – mit diesem Verhalten nahmen sie massiv Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse. Auch bei anderen Forschungen fand er oft ähnliche Beeinflussung, sodass viele Schlussfolgerungen über das Böse mindestens hinterfragt werden müssen, bzw. sich direkt als manipuliert erwiesen.
Zukunftsfroh und stärkend sind Bregmans positive Beispiele für den Gemeinschaftssinn, für Projekte, die vom Wohlwollen der Menschen ausgehen. Er sprach mit Jos de Blok, der den erfolgreichen Pflegedienst Buurtzorg (Nachbarschaftsbetreuung) in den Niederlanden aufgezogen hatte. In seinen Teams entscheiden und bestimmen die Mitarbeitenden selbst, wie und wann wer die anfallenden Arbeiten leistet. Er berichtet von Schulen mit freien, selbst gestalteten Lehrplänen; er erzählt von einem Gefängnis in Norwegen, in dem die Würde der Insassen geachtet wird und die Rückfallquote deutlich geringer ist, als wenn mit immer härteren Strafen gearbeitet wird.
Bregman rät gegen Ende des Buchs: „Geh im Zweifelsfall vom Guten aus. Denke in win-win-Szenarien. Verbessere die Welt, stelle eine Frage….Versuche den anderen zu verstehen, auch wenn du kein Verständnis aufbringen kannst….“ Ganz zum Schluss folgt seine wichtigste Lebensregel: „Seien Sie realistisch. Outen Sie sich. Folgen Sie Ihrer Natur und schenken Sie Vertrauen. Schämen Sie sich nicht für Ihre Grosszügigkeit und tun Sie das Gute bei hellem Tageslicht. Vielleicht werden Sie zunächst noch als töricht und naiv abgetan. Doch bedenken Sie: Die Naivität von heute kann die Nüchternheit von morgen sein. Es ist Zeit für ein neues Menschenbild.“
Rutger Bregman: Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit, aus dem Niederländischen von Ulrich Faure und Gerd Busse, 479 Seiten, rororo Hamburg 2020