Istanbul 24 h
Durch Istanbul spazieren mit einer, die sich auskennt. Christiane Schlötzer-Scotland lebte zwischen 2001 und 2021 fast zwölf Jahre in Istanbul. Als Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung und des Zürcher Tagesanzeigers lernte sie die Stadt und ihre EinwohnerInnen schätzen. Sie nimmt uns mit auf eine virtuelle Stadtführung.
Im Morgengrauen wandern wir mit dem ersten Hahnenschrei los, begegnen der Frau eines Imams, landen kurz darauf im Gefängnis.
Die Autorin porträtiert Menschen in der Millionenstadt, die für bestimmte Aspekte des Lebens stehen; Menschen, die zum kulturellen und ideellen Reichtum der Stadt beitragen. Osman Kavala, der zivilgesellschaftliches Engagement fördert, wurde inhaftiert, weil er die Gezi-Proteste mit organisiert haben soll. Beweismittel fehlen, bzw. sind lächerlich: eine Karte der verschiedenen Bienenarten in der Türkei zum Beispiel.
Gern gehe ich lesend – und 2013 leibhaftig – mit der Journalistin weiter zu İlker Aslan, dem Bosporus-Reiniger, steige mit ihr und dem Architektenpaar Erdoğan Altindiş und Gabi Kern ein enges gewundenes Treppenhaus hinauf in den siebten Stock und geniesse staunend die Aussicht, erfahre von den Projekten der Beiden alte Wohnungen liebevoll nach traditioneller Handwerkskunst zu restaurieren.
Zu jeder Stunde fügt eine neue Begegnung einen weiteren wichtigen Mosaikstein zum Bild der geschichtsträchtigen Stadt: Ethel Rizzo, Jüdin, Griechin, Türkin hält die Erinnerungen an das Gemisch der Nationen, Religionen, Völker am Bosporus wach. Gleich ist Mittag und der Koch Cem Ekşi bittet zu Tisch: wo sind die Ursprünge des Geschmacks? Schon steigt der Duft nach wilden Kräutern aus dampfenden Töpfen, meine Nase empfängt aus Schlötzers Beschreibung die Gerüche türkischer Suppen, meine Zunge schmeckt den wunderbar festen Yogurt und gleich gibt es noch ein Glas mit frisch gepresstem Granatapfelsaft.
Danach mahlen wieder die Mühlen der Justiz, langsam und schwerfällig. Der Arzt Sinan weiss nicht, ob er in Istanbul bleiben soll oder sicherer ist, wenn er weg geht. Beim kurdischen Psychotherapeuten Zaza Yurtsever liegt die Türkei, das Land symbolisch auf der Couch – er diagnostiziert Minderwertigkeitsgefühle und Narzissmus. Am Nachmittag wartet der Tee im Pera Palace, später berichtet eine junge Studentin von der Solidarität, die für einige Wochen im Frühling 2013 Menschen jeglichen Alters zusammen für den Erhalt des Gezi Parks kämpfen liess. Nachdem die temporäre Zeltstadt gewaltsam geräumt wurde, verfiel Tatlı in Depression «wie das Land» sagt sie.
Am Abend lauschen wir, wie die Kurdin Helin durch Literatur «gerettet» wurde. In einer Abendschule in einem Hinterhof diskutieren IstanbulerInnen über ihre Stadt. Später begleiten wir die Autorin zu einer Vernisssage, besuchen ein deutsch-türkisches Paar, lesen immer wieder von Verhaftungen, Anschuldigungen – und Mut.
Eine Lesereise, die klug informiert. Man kann das Buch mit einer Bildungsreise vergleichen: Christiane Schlötzer erzählt, flicht Informationen, Hintergründe, weiterführendes Wissen ein. So versteht man die Türkei wenigstens ein kleines bisschen besser.
Christiane Schlötzer: Istanbul – ein Tag und eine Nacht – ein Porträt der Stadt in 24 Begegnungen, Berenberg Verlag Berlin 2021, 278 Seiten