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Mutter verabschieden

«Es ist später als Du denkst» lautet die Inschrift auf einem Marmorstein in Laas, Südtirol. Mit diesem Motto, das später noch einmal im Buch auftaucht, beginnt die Geschichte des Abschieds vom wohl wichtigsten Menschen in unserem Leben: der Mutter, die uns getragen, geboren, genährt hat. Die Autorin, Fachärztin für Psychiatrie, nimmt sich die Zeit, die letzten sechs Wochen im Leben ihrer Mutter zu begleiten.
Sie führt eine Art Tagebuch, indem sie sich, wenn Mutter schläft, Notizen macht: sie sieht den geschenkten Wandkalender, mit manchmal passend erscheinenden, manchmal unpassenden Bildern; sie bewundert die Ordnung, die ihre Mutter mit ihren 91 Jahren in der kleinen Wohnung hält; sie nimmt die sich verändernde Stimme der Mutter wahr; sie beobachtet genau – wie diese selbst – kleinere und grössere Veränderungen am Körper der alten Frau. Aus den Worten der Autorin sprechen, selbst wenn ungute Gefühle auftauchen, umfassende Liebe, wertschätzender Respekt und würdigende Dankbarkeit. Erinnerungen tauchen auf; Fotoalben werden neu betrachtet, alte Themen angesprochen, verschüttete Gefühle ans Licht gehoben.
Auch wenn Breznik die Mutter wäscht und pflegt, tut sie es weniger als Ärztin, sondern mehr als Tochter. Sie schiebt die Verpflichtungen, die sie in ihrem Beruf in der Schweiz hat, auf und bleibt bei der Mutter am Heimatort in der Steiermark in Österreich. «Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich».
Unterstützt vom Bruder, von den Nachbarinnen und doch allein erlebt die Autorin, wie dieses geliebte, liebende Menschenleben zu Ende geht.
Dank der behutsamen Wortwahl fällt es leicht, lesend diesen Prozess auf wohltuende Weise zu begreifen. Damit spendet die Autorin allen Trost.

Melitta Breznik: Mutter – Chronik eines Abschieds, Luchterhand Verlag München 2020, 158 Seiten

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